focus.de: PETRARCA-PREIS 1993 - Die Würde des Dunklen
Der tschuwaschische Dichter Gennadij Ajgi erhält am 12. Juni in Perugia den Petrarca-Preis
von Felix Philipp Ingold
Gennadij Ajgi war 57 Jahre alt, als 1991 sein erstes in russischer Sprache verfaßtes und in Rußland gedrucktes Buch erscheinen konnte. Der späte Erstling, ein umfangreicher Lyrikband, vermeldete unter dem lapidaren Titel „Hier“ den Auftritt eines selbstbewußten Autors, der jahrzehntelang vom sowjetischen Literaturbetrieb aus- geschlossen blieb, aber trotz behörd- licher Schikanen und materieller Not ein Werk geschaffen hatte, das als eine der großen weltliterarischen Errungenschaften der Nachkriegszeit gelten darf.
Insgesamt umfaßt dieses Werk an die 20 Gedichtsammlungen. Da Ajgi in der ehemaligen UdSSR als „feind- liches Element“ und „Volksverräter“ inkriminiert war und seine Dichtungen dem Sozialistischen Realismus in keiner Weise entsprachen, mußte er sich damit begnügen, seine Gedichte in eigenhändigen Abschriften an Freunde und Bekannte weiterzureichen. Privater Initiative war es auch zu verdanken, daß Ajgis Dichtungen verbreitet wurden. Seit den sechziger Jahren gelangten sie ins Ausland, wo sie ab 1967 auf Slowakisch und Tschechisch, dann auf Deutsch, Polnisch, Ungarisch und Französisch in Buchform ver- öffentlicht wurden. Inzwischen gibt es auch englische und niederländische Übersetzungen: Allein der deutsche Ajgi ist in fast einem Dutzend Einzelausgaben greifbar.
Gennadij Ajgi wurde 1934 in der Tschuwaschischen Autonomen Sowjetrepublik geboren. Er selbst ist Tschuwasche, gehört also einem kleinen Turkvolk an, das westlich der Wolga in unmittelbarer Nachbarschaft der Tatarischen Republik lebt. Durch seine Mutter, die einem schamanischen Geschlecht entstammte, blieb Ajgi trotz der rigiden Sowjetisierung seinem Volk verbunden. Durch den Vater, der unter anderem Puschkin ins Tschuwaschische übersetzt hat, fand Ajgi Zugang zur russischen Sprache, die er perfekt beherrschte, als er 1953 nach Moskau zog, um am dortigen Literaturinstitut zu studieren. Nie hat er seine Verbindung zur Heimat aufgegeben, auch nicht die Liebe zu seiner Muttersprache, in der er zahlreiche, von der Volksdichtung in- spirierte Gedichte verfaßte und die für ihn zur Zielsprache zahlreicher Übersetzungen aus anderen Sprachen (dem Russischen, dem Französischen, dem Polnischen) wurde. Als Dichter verwendete Ajgi auf Anraten seines Freundes Boris Pasternak ab 1960 ausschließlich das Russische.
Durch diese Schreibbewegung wird die Muttersprache verfremdet, die Fremdsprache muttersprachlich imprägniert. Und: Das Lesen der Texte wird erschwert. Ajgi gilt als einer der schwierigsten Gegenwartsautoren überhaupt. Aber die Schwierigkeit gehört zu seiner Poetologie. Das Gedicht soll der Phrase entgegengesetzt sein, die heute das Infotainment, die Werbesprache und die politische Rhetorik dominiert.
Geläufig ist heute das prostituierte, das dienstfertige Wort, das als solches nicht mehr wahrgenommen wird, weil es immer für etwas einzustehen hat, was hinter ihm steht. Ajgi zeigt das Wort als das, was – jetzt – dasteht: als ein Einzelnes. Von daher ist vielleicht auch zu erklären, daß in Ajgis Gedichten oft grammatikalische Grundformen – das Hauptwort im Nominativ, das Tätigkeitswort im Infinitiv oder als Partizip – vorkommen. Wie in dem Gedicht „Haus im Feld“ (1991):
alles sehr einfach: maus schauern im müll / und wind um die ecke / und dort – verregnet in der nacht der weg / und nebenan – im garten – verwahrlost / ein tisch: und das gespräch – ganz schräg beiseite / ein haften und rascheln / des (wie eine alte jacke) vertrauten laubs / und nebel-als-heimat – - mehr und mehr und immer näher / mit dem seelen-blick – der vergangenen der längst / vergangenen (wie ist das auszusprechen) mama . . .
Mit René Char, seinem langjährigen „Gesprächspartner auf Distanz“, teilt Ajgi die Überzeugung, „Ehre und Würde des Dichterworts“ müßten gegen „platte Rhetorik“ und „linguistische Spielerei“ durchgesetzt werden. Beiden gilt das dunkle Wort als Vertrauensbeweis an den schöpferischen Menschen, und Ajgi erkennt in ihm „das unschlichte Aufleuchten der tiefsten Wurzeln der Ethik und Ästhetik.“
Die Preisträger
Der von Dr. Hubert Burda gestiftete Petrarca-Preis in Höhe von 25 000 Mark geht an Gennadij Ajgi. Bücher von Ajgi liegen im Insel Verlag Leipzig, dem Berliner Rainer Verlag und bei Suhrkamp vor. Den Petrarca-Übersetzer-Preis (10 000 Mark) erhält der Kölner Übersetzer und Kritiker Hanns Grössel. Und der Nicolas-Born-Preis (15 000 Mark) geht an den Berliner Lyriker Durs Grünbein, („Schädelbasislektion“, Suhrkamp). Die Jury des Petrarca-Preises: Peter Handke, Peter Hamm, Michael Krüger und Alfred Kolleritsch.