focus.de: Siegestor und Segeltour
Gute Freunde allerorten – der neue autobiografische Roman von Hermann Lenz führt in das München der achtziger und neunziger Jahre
Die Stadt wiedersehen, wo das Siegestor im Nebel näherrückte, das Siegestor, dessen Erzmedaillons die Marmorflanken schwärzten, weil über sie der Regen hundert Jahre lang herabgeflossen war. Dahinter regten sich die gelben Pappeln, schon fast ausgekämmt.“ In diesem Bild, das Hermann Lenz in den ersten Zeilen seines Romans „Neue Zeit“ aus seiner Erinnerung heraufholt, der Erinnerung an die Zeit, als er in München studierte, 1937, steht er als Betrachter wohl vor jenem Haus, dessen Inneres ihm fünfzig Jahre später sehr vertraut ist, weil er den Besitzer zu seinen Freunden zählen darf: „Urban“, so beginnt „Freunde“, der jüngste seiner autobiografischen Romane, „saß im weißen Polstersessel, während vor hohen Fenstern der Klotz des Siegestors im Scheinwerferlicht hinter hohen Bäumen weiß erleuchtet war.“
Ein mächtiger Münchner Verleger ist Urban – freilich nicht von Büchern, wie Hermann Lenz sie schreibt – und ein Kunsthistoriker, der es verstanden hat, einen formidablen Kreis von Schriftstellern (und ihren Gesellen) um sich zu versammeln. Einige von ihnen lädt Urban, im weißen Polstersessel sitzend, zu Beginn ein, ihn auf einer Tour mit einem Segelschiff entlang der türkischen Küste zu begleiten. Auch Eugen Rapp, wie sich Lenz in seinen Romanen selbst nennt, wird eingeladen und seine Frau, jene Hanne Treutlein, die er damals in München kennen- und liebenlernte und mit der er seither zusammen ist.
Mit ihr, die als Halbjüdin in München häßliche und gefährliche Jahre verlebte, überlebte, war Lenz Mitte der siebziger Jahre, als er nach dem Tod seiner Mutter das Elternhaus in Stuttgart verlassen mußte („Seltsamer Abschied“), hierher zurückgekommen. Der vorletzte Band seiner romanhaften Autobiografie „Herbstlicht“ schildert diesen Neueinzug in München, und da erinnert er sich, gleich zu Anfang „zu Hanne gesagt zu haben: Weißt du, daß wir in München niemand kennen?““
Rascher, als manch einem lieb wäre, beginnt Eugen Rapp, in München dazuzugehören. Das hängt – wieder einmal – mit Stephan Koval zusammen – „Sein Haar, halblang über die Ohren hängend, war dicht und braun ohne einen weißen Faden“ -, der ihn wenige Jahre zuvor mit einem fulminanten Aufsatz in der „Süddeutschen Zeitung“ jahrzehntelangem Unbeachtetsein entrissen hatte. Danach ist Lenz/Rapp in Baden-Württemberg zum Professor ernannt worden, hat den Büchner-Preis erhalten und reist zum Bundespräsidenten (Karl Carstens) nach Bonn. Dies sind Eckdaten für den zeitlichen Rahmen. Andere Zeitsignale bilden die Wiedervereinigung, der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft durch die deutsche Mannschaft und Urbans 50. Geburtstag.
Natürlich ist Stephan Koval Peter Handke – „hochgewachsen und mit halblangem Haar“, wie er schon in „Herbstlicht“ mit refrainartig wiederkehrenden Wendungen beschrieben wird. Und Urban ist niemand anderes als Handkes Freund Hubert Burda, der Stifter des Petrarca-Preises, den Lenz/Rapp unterdessen auch bekommen hat. Namen erteilt oder respektiert Lenz in feiner Unterscheidung. Handke, dem er sich durch Bewunderung, Dankbarkeit und Freundschaft verbunden fühlt, wird mit fiktivem Vor- und Nachnamen genannt.
Andere Freunde werden nur mit Vornamen genannt, den echten: Michael (Krüger), Peter (Hamm), Marianne (Koch) oder Rachel (Salamander). So auch Heinrich (Kühner), den Rapp schon in seinen ersten Studiensemestern in Tübingen kannte, den ein abenteuerliches Schicksal nach Rußland und China verschlug und der nun Rapps wichtigster Gesprächspartner geworden ist.
Ein Schlüsselroman ist „Freunde“ nicht. Wer die wirklichen Personen kennt, erkennt sie hier – wie auch schon in den früheren Romanen – ohne Erstaunen wieder. Wer sie nicht kennt, hat bei der Lektüre kaum einen Nachteil davon. Dennoch zeigt sich, daß Lenz der sanfte Beobachter, als der er oft empfunden wird, nicht immer ist. Da gibt es pointierte Begebenheiten und spitze Bemerkungen, von denen sich der eine oder andere Zeitgenosse wünschen dürfte, andere überläsen sie.
Doch solche Episoden dringen selten zur Oberfläche des Eindrucks vor, den der Roman erzeugt. Lenz hat auch diesem Buch Tagebuchaufzeichnungen zugrunde gelegt. Er objektiviert seine Erinnerungen durch eine Prosa, die wie Poesie eine völlig selbständige Aura schafft, in die das Erzählte wie zufällig hereinkommt. Die Erzählung ist unspekulativ bis zur Trockenheit, läßt sich gleichsam durch die Sichtbarkeit der Dinge aufsaugen. Aus dieser sonderbaren Klarheit, Nüchternheit heraus wendet sich der Autor dann oft unvermittelt an den Protagonisten, in dem er sich selbst anspricht: „Er machte sich klar, daß er erst in München aufgeatmet hatte. In deiner Geburtsstadt, dort in Stuttgart, bist du allein gewesen, als einer, den die anderen an die Wand drücken, bist du dabeigewesen und hast dir selbst zugeschaut.“
Wie sagt Hanne oft: „Erzähl mir einen Schwank aus deinem Leben.“ Von solchen Schwänken wimmelt es: Lenz als Akademiemitglied, Lenz als Stammtischgast, Lenz als Festgast, Lenz als Festredner, Lenz als Held eines Fernsehfilms – von Eugen Rapp immerhin läßt sich das so erzählen, daß dabei kein Bruch entsteht zu jenem Eugen Rapp, den man aus den Büchern von Hermann Lenz schon zu kennen glaubte.
Es gibt eine Poesie des Erzählens, die jede Geschichte interessant und jede Geschichte neu macht. Die Hauptperson in diesen Geschichten ist die Zeit. Daß man der Zeit mit allem Früheren und jedem Gegenwärtigen nicht entkommt, erlebt der Dichter als Herausforderung, der er die Kunst des Erzählens entgegenstellt. Was erwartet Eugen Rapp von seinem Tod? „Die Ablösung von allem Früheren“. . . „Und daß du weggetragen wirst . . . Jahrzehntelang hast du dich anderen Menschen vorgestellt (wie im Theater). Nun aber ist das Ende deiner Vorstellung gekommen . . .“! Und zum Schluß: „Du aber wünschst dir, vor deiner Frau zu sterben, dem einzigen Menschen, der zu dir gehört.“
„Wer die wirklichen Personen kennt, erkennt sie hier ohne Erstaunen wieder. Wer sie nicht kennt, hat bei der Lektüre kaum einen Nachteil davon“ JÜRGEN BUSCHE ÜBER „FREUNDE“ VON HERMANN LENZ
VITA HERMANN LENZ
Geboren
1913 in Stuttgart. Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik in Heidelberg und München. Seit 1946 freier Schriftsteller
Titel des Eugen-Rapp-Zyklus
„Verlassene Zimmer“, 1966. „Andere Tage“, 1968. „Neue Zeit“, 1975. „Tagebuch vom Überleben und Leben“, 1978. „Ein Fremdling“, 1983. „Der Wanderer“, 1986. „Seltsamer Abschied“, 1988. „Herbstlicht“, 1992. „Freunde“, 1997
Preise und Ehrungen
u. a. Büchner-Preis 1978,
Petrarca-Preis 1987,
Jean-Paul-Preis 1991,
Würth-Preis für Europäische Literatur 1997